Mit Marsiada wird eine Reihe von miti antichi [Antike Mythen] eröffnet, deren Inhalte und Stoffe der Sagenwelt der griechischen Antike entnommen sind. In den kurzen, einsätzigen Stücken verzichtet Stahmer auf absolut-musikalische Prinzipien und folgt einem Typus von Programmmusik, für den Franz Liszt als Vorbild diente. Angelegt wie kleine musikalische „Szenen“, folgen die Stücke weniger den Gesetzmäßigkeiten motivisch-thematischer Logik als vielmehr einer am jeweiligen Stoff entwickelten Dramaturgie. So wird in „Marsiada“ der musikalische Wettkampf zwischen dem Satyrn Marsyas und dem Gott Apoll dargestellt. Der Sage nach soll Marsyas den Doppelaulos vom Erdboden aufgehoben haben, den Athene weggeworfen hatte als sie sah, wie sehr ihr Gesicht beim Spielen des Rohrblattinstruments entstellt wurde. Der Satyr aus dem Gefolge des Pan brachte es auf dem Aulos rasch zu einer gewissen Fertigkeit und fühlte sich animiert, Apoll mit seinem Leierspiel zum Zweikampf herauszufordern. Doch dieser bestimmte nicht nur die Jury, wie man heutzutage die Gruppe der Schiedsrichter nennen würde, sondern änderte auch noch während des Wettkampfes das Reglement. Als er nämlich erkennen musste, dass sein Herausforderer bei den Juroren, den zu seinem Gefolge gehörenden Musen, mit dem von männlicher Kraft geprägten Spiel „punktete“, verlangte er, dass beide Spieler ihr Instrument um 180 Grad drehen und dann weiterspielen sollten, und nicht nur dies: Sie sollten dabei auch noch singen. Das waren zwei für den Doppelaulos unerfüllbare Bedingungen, und somit stand der Sieger fest. Der Unterlegene wurde auf grausame Weise bestraft – ein Topos, der in der Kunstgeschichte immer wieder für abschreckende Darstellungen sorgte. „Ich hatte immer schon mehr Sympathie für den Herausforderer als für seinen – na, sagen wir ruhig „hinterfotzigen“ – Kontrahenten, und sei dieser auch ein Gott. Zum einen tat mir der Marsyas leid. Ich war empört, dass der Wettkampf nicht mit fairen Mitteln auf der Ebene des künstlerischen Wettbewerbs durchgeführt wurde. Zum anderen sehe ich in dem Satyrn auch einen Vertreter der modernen Musik. Dieser aus Phrygien stammende und in Attika und somit im Machtbereich Apolls unbekannte Musiker hatte etwas erfunden, was sich gegen das unflexible und in seiner Diatonik erstarrte Leierspiel auflehnte und der alten Tetrachordlehre neue Ausdrucksmöglichkeiten
erschloss.“ (KHS) Stahmer lässt die Szene vor dem Hörer entstehen, indem der Solist die Bühne bzw. den Konzertsaal spielend betritt. Schon hinter der Bühne beginnt er zwei Oboen gleichzeitig zu spielen, was insofern möglich ist, als beide Hände jeweils nur den oberen Teil des Instruments und damit den Tonvorrat rund um den Ton „h“ benutzen. Er spielt zunächst eine längere, nach Art der Variantenheterophonie zweistimmig gesetzte Passage.